Schuldgefühle: Abladen erlaubt!
Schuldgefühle sind heimtückisch, sie schleichen sich unter unsere Haut und werden zu einem Teil von uns, bevor wir es merken. Im Zusammenhang mit einem Trauerfall sind Schuldgefühle oft eine Last, die wir uns selbst auferlegen, und nicht etwas, das andere uns fühlen lassen.
Schuldgefühle können Macht über uns gewinnen. Sie können uns in eines dieser bodenlosen schwarzen Löcher hineinziehen voller Isolation und Verzweiflung. Manchmal kommen wir aus diesem Loch von allein wieder heraus, oft aber brauchen wir dabei Hilfe von außen.
Bei einem Todesfall empfinden wir ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wir hätten alles getan, um den Tod zu verhindern, aber leider ist der Tod Realität geworden, und wir fühlen uns überfordert.
Wo kommen dann die Schuldgefühle ins Spiel?
Schuldgefühle entstehen in der Regel, wenn wir auf die Ereignisse rund um den Tod eines geliebten Menschen zurückblicken und uns vorstellen, wie die Dinge anders hätten verlaufen können.
Schuldgefühle können auch entstehen aus der einfachen Tatsache, dass man noch lebt, während die andere Person gestorben ist.
Manchmal kommen wir zu dem Schluss, dass wir vielleicht, nur vielleicht, etwas hätten tun können, das den Ausgang der Dinge verändert hätte. Wir sagen "wenn doch nur dies oder jenes anders gelaufen wäre..." oder "was wäre gewesen, wenn..." oder „hätte ich doch …“, und das gibt uns das Gefühl, dass der Tod unsere Schuld war, weil wir etwas getan oder eben nicht getan haben. Hätten wir etwas unternommen, hätten wir das Gefühl, dass die Ereignisse unter unserer Kontrolle standen und wir das Ergebnis hätten ändern können.
Vielleicht erinnern wir uns daran, dass unser geliebter Mensch einige Tage vor seinem Tod sagte, dass er sich unwohl fühlte, und glauben nun, dass wir etwas dagegen hätten tun können. Vielleicht wussten wir, dass das Wetter in der Nacht, in der sie mit dem Auto unterwegs waren, schlecht war, warum haben wir ihnen also nicht gesagt, dass sie bei diesem Wetter nicht fahren sollten? Oder wir sind der Meinung, dass wir sie hätten ermutigen sollen, mehr über ein bestimmtes Gesundheitsproblem zu erzählen, aber wir waren zu sehr in unser eigenes Leben vertieft. Dann geben wir uns selbst die Schuld, machen uns Vorwürfe und haben Mühe, die Realität zu akzeptieren.
Es ist wichtig zu wissen, dass Schuldgefühle beim Trauern die Regel und nicht die Ausnahme sind. Meiner Erfahrung nach haben die meisten Trauernden ein gewisses Maß an Schuldgefühlen im Zusammenhang mit ihrem Verlust – manchmal große, manchmal kleine.
Wenn jemand im Zusammenhang mit einem Todesfall Schuldgefühle zum Ausdruck bringt, antworten andere sofort mit Gründen, sich nicht schuldig zu fühlen: Du hättest es nicht wissen können, du hast dein Bestes gegeben, es ist nicht deine Schuld. Andere Menschen möchten dir natürlich sagen, dass du dich nicht schuldig fühlen sollst.
Wie so viele andere Sätze auf unserer Liste, die man nicht sagen sollte, entspringt auch dieser einer guten Absicht.
Aber hier liegt das Problem: Man kann nicht ändern, wie sich jemand fühlt. Diese Tatsache ist wichtig: Ich werde es wiederholen. Man kann nicht ändern, wie sich jemand fühlt.
Schuld ist ein Gefühl. Wir können nicht aufhören, uns schuldig zu fühlen, weil uns jemand dazu auffordert – leider funktionieren Gefühle einfach nicht so. Gefühle sind entweder da – oder eben nicht. Ein Gefühl fragt uns nicht, ob es mal eben auftauchen darf? Nur ganz kurz?
Wenn es darum geht, warum wir Schuldgefühle empfinden, ist es wichtig, über die Gründe für unsere Schuld nachzudenken und dann zu überzulegen, wie wir mit der Schuld umgehen können. Aber zuallererst müssen wir akzeptieren, dass Schuldgefühle ein häufiges und normales Gefühl in der Trauer sind.
Schuldgefühle nach dem Tod eines geliebten Menschen zu überwinden, ist keine leichte Aufgabe, da der Mensch, um den wir trauern, ja nicht mehr in der Lage ist, uns eine Art Absolution zu gewähren. Der Mensch kann uns nicht mehr sagen, mache dir keine Gedanken, es war nicht deine Schuld. Dann wäre uns wohler.
Nur weil man sich schuldig fühlt, heißt das nicht, dass man auch schuldig ist.
Ohne jemanden oder etwas, dem wir die Schuld geben können, müssen wir akzeptieren, dass das Universum unvorhersehbar und chaotisch sein kann. Wenn wir glauben, dass wir etwas anders hätten tun können, was den Tod verhindert hätte, dann hoffen wir ja eigentlich darauf, dass wir das Leben unter Kontrolle haben könnten.
Wenn wir aber akzeptieren, dass wir das Ergebnis niemals hätten wissen oder ändern können, müssen wir anerkennen, dass einige Dinge, die passieren, völlig außerhalb unserer Kontrolle liegen. Solange wir an der Schuld festhalten, haben wir die Hoffnung, dass wir das Ergebnis hätten kontrollieren können. Das Gefühl der Kontrolle (wie ungenau es auch sein mag) ist oft beruhigender als die Vorstellung, dass wir das Leben im Allgemeinen nicht beherrschen.
Wenn wir das alles aber wissen, wenn wir wissen, dass wir das Leben nicht unter Kontrolle haben, weder unseres noch das Leben der anderen, warum halten wir dann an der Schuld fest? Warum geht diese Schuld nicht weg? Warum bleibt dieses Gefühl?
Ein Grund kann sein: Weil wir mit unseren Schuldgefühlen eine Verbindung halten zu unserem verstorbenen Menschen. Und solange wir uns schuldig fühlen, solange wir denken, wir hätten etwas anders machen müssen, solange bleibt diese Verbindung zu unserem lieben verstorbenen Menschen. Vielleicht kommt es uns sogar wie ein Verrat vor, wenn wir unsere Schuld aufgeben. Vielleicht denken wir dann sogar, jetzt ist der liebe verstorbene Mensch wirklich weg.
Unser Gefühl der Schuld bedeutet ja, dass wir alles getan hätten, um den Tod zu verhindern. Solange ich ein Schuldgefühl habe, versuche ich verzweifelt, irgendeine Rechtfertigung für den Tod zu finden. Diese Rechtfertigung gibt es aber nicht. Und selbst wenn es sie gäbe: Wir wären ja auch mit keiner Erklärung des Todes, mit keiner Begründung zufrieden. Wir würden ja sofort denken: aber es hätte doch sicher auch eine andere Möglichkeit gegeben.
Manche Trauernde leiden zwar unter dem Schuldgefühl, möchten es gleichzeitig aber nicht verlieren. Das hört sich sicherlich merkwürdig an. Doch es kann ja sein, dass deine Schuldgefühle dich weiterhin mit dem Verstorbenen verbinden. Aber ist das denn die einzige Verbindung, die du zu deinem Menschen hast? Diese belastende und zermürbende Verbindung durch die Schuld? Oder gibt es noch andere Verbindungen, die du z.B. durch Rituale aufrechterhalten kannst? Durch das Schreiben von Briefen an deinen Verstorbenen, durch eine Gedenkecke in deiner Wohnung, durch Besuche am Grab oder durch Gespräche mit ihm oder mit anderen über ihn?
Ich hatte zu Anfang gesagt, dass das Gefühl der Schuld normalerweise dir nicht von anderen gegeben wird. Dieses Gefühl wird dir von der Außenwelt nicht auferlegt. Sondern du selbst gibst dir diese Gedanken, du selbst also bist es, der dich anklagt. Und du selbst bist es auch, der das Urteil gesprochen hat, dass du schuldig bist.
Wenn du dich selbst also angeklagt und verurteilt hast, dann könntest du selbst dir ja auch vergeben oder dich begnadigen.
Das Wort Gnade ist verwandt mit dem altindischen Wort nath, was so viel heißt wie ‚um Hilfe bitten‘. Gnade ist immer unverdient. Man kann sich eine Begnadigung nicht erarbeiten oder verdienen. Sie wird entweder gewährt – oder eben nicht.
Wenn wir uns selbst allerdings vergeben, wenn wir uns selbst gegenüber Gnade walten lassen für Unterlassungen oder Fehler, die wir gemacht haben, und uns eingestehen, dass wir nichts haben tun können, um den Tod zu verhindern, bedeutet das ja nicht, dass wir den Tod gutheißen. Unser Schuldgefühl entspringt ja unserer Liebe zum Verstorbenen. Und wenn wir unser Schuldgefühl aufgeben, wird dadurch unsere Liebe nicht kleiner. Wenn wir unser Schuldgefühl aufgeben, bedeutet das nicht, dass wir unseren lieben verstorbenen Menschen vergessen.
Sei dir selbst gegenüber großzügig und hebe das Urteil auf, dass du über dich gesprochen hast. Gestatte dir, dass du nur ein Mensch bist und nicht allmächtig. Erlaube dir, dass du nichts hast tun können.
Selbstvergebung ist ein Prozess und kann Zeit in Anspruch nehmen, aber sie kann wichtiger Schritt sein, um dich mit dem Geschehenen abzufinden.
Deine Liebe zum Verstorbenen wird durch das Loslassen von Schuldgefühlen nicht geschmälert.
Wie geht es denn jetzt weiter mit deinen Schuldgefühlen?
Hier ist eine kurze Punkteliste:
- Akzeptiere deine Gefühle: Schuldgefühle sind eine natürliche Reaktion auf den Verlust, auch wenn sie nicht immer auf objektiven Tatsachen basieren. Es ist wichtig, sich selbst zu erlauben, diese Gefühle zu haben, anstatt sie zu unterdrücken oder zu leugnen.
- Sprich darüber: Mit Freunden, Familie oder einem Therapeuten über deine Schuldgefühle zu sprechen, kann sehr hilfreich sein. Oft können Außenstehende eine Perspektive bieten, die du vielleicht übersehen hast, oder sie können einfach zuhören und Unterstützung bieten.
- Schreibe darüber: Das Aufschreiben deiner Gefühle kann helfen, sie zu verarbeiten. Du könntest einen Brief an die verstorbene Person schreiben, in dem du alles ausdrückst, was du fühlst, oder ein Tagebuch führen, um deine Gedanken und Gefühle festzuhalten. Probiere es einfach mal aus.
- Überlege objektiv: Versuche, die Situation aus einer objektiven Perspektive zu betrachten. Wären die Erwartungen, die du an dich selbst hast, die gleichen, die du an einen Freund in derselben Situation stellen würdest? Oft sind wir mit uns selbst viel härter als mit anderen.
- Vergebung: Manchmal ist es wichtig, sich selbst zu vergeben, auch wenn man das Gefühl hat, einen Fehler gemacht zu haben.
- Hilfe von außen: Wenn Schuldgefühle zu überwältigend werden oder lange anhalten, könnte eine Trauertherapie oder -beratung hilfreich sein. Ein Therapeut kann spezifische Techniken und Perspektiven anbieten, um dir beim Umgang mit deinen Gefühlen zu helfen. Auch Trauerbegleitung, der Besuch von Trauergruppe und unser Trauerchat, der dreimal in der Woche stattfindet und moderiert wird, kann hilfreich sein
- Trauerrituale: Manchmal kann es helfen, etwas Konkretes zu tun, um die Person zu ehren und gleichzeitig mit den Schuldgefühlen umzugehen. Dies könnte etwas so Einfaches sein wie das Anzünden einer Kerze zum Gedenken. In einem anderen Video habe ich Trauerrituale schon erläutert.
- Zeit: Wie bei vielen Aspekten der Trauer kann auch die Zeit helfen, Schuldgefühle zu lindern. Während die Zeit allein aber die Gefühle nicht heilen wird, kann sie helfen, sie in einen Kontext zu setzen und zu verarbeiten.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Trauer ein individueller Prozess ist und jeder ihn unterschiedlich erlebt. Was für eine Person funktioniert, funktioniert möglicherweise nicht für eine andere. Es ist in Ordnung, Hilfe zu suchen und Unterstützung zu erhalten, um mit diesen intensiven Gefühlen umzugehen.
Wenn du das Gefühl der Schuld allerdings nicht aufgeben möchtest, dann behalte es! So einfach ist das! Es ist deine Trauer, es sind deine Gefühle. Und wenn du sie – vielleicht erst einmal – festhalten möchtest, dann tue das. Mir war nur wichtig, dass du einmal über diese Schuldgefühle nachdenkst und sie von mehreren Seiten beleuchtest.
Besprich es mit anderen. Ein guter Berater oder eine Selbsthilfegruppe ist eine großartige Umgebung, um über Schuldgefühle zu sprechen.